Überlebenskampf Alltag: Leben in der Zeltstadt

Im zweiten von acht Teilen berichtet Christina Lopinski von dem Alltag der Menschen in Zeltstätdten.

Überlebenskampf Alltag: Teil 2 von 8 aus der Serie von Christina Lopinski

 
 

„Close the window“. Lucy schüttelt den Kopf, Cecil schließt das Fenster des Vans von innen. Staub wirbelt durch die Luft, vermischt sich mit arabischen Wortfetzen, Kinder schreien. „They have to build a line“, ruft die Französin, ihre Stimme geht unter. Keine Reihe, keine Windeln, sagen wir auf türkisch. Einer der Männer schreit, wir sind Türsteherinnen, auf einem Feld, irgendwo in Izmir, und schieben die Frauen in eine Reihe. „For your own security“, sage ich vorsichtig. Ein schwarzhaariger Junge schaut mich mit großen Augen an und lächelt. Er fängt meine Unsicherheit auf, ich lächele zurück, dann öffnet Cecil das Fenster und wir können weiter Windeln verteilen. Ich stehe rechts vom Van, habe meine Arme ausgebreitet und weise die Frauen ab, die sich an der Reihe vorbeidrängeln wollen. Eine junge Frau, jünger als ich, hat Tränen in den Augen, ein arabischer Wortschwall kommt aus ihrem Mund, sie hält mir ihren Säugling vors Gesicht, weil die Mitleidssprache universal ist. Mitleid ist keine Hilfe, habe ich gelernt, also schüttele ich den Kopf und zeige mit dem Finger auf das Ende der Schlange. Wir haben genug Windeln für alle, möchte ich sagen, die Sprachbarriere ist zu groß, ich versuche ihr mit meinen Augen zu versprechen, dass ich zur Not persönlich dafür sorgen werde, dass ihre Kinder versorgt werden.

 

 

Vor mir bildet sich schon wieder ein Frauenklumpen. Mütter drücken ihren ältesten Töchtern Babys in die Arme, damit sie schneller an die Reihe kommen. An den Kleiderzipfeln der jungen Mädchen hängen Kinder, einige wenige sind nackt. Es ist ein Schreikonzert, als würden die Kleinen spüren, dass wir aus einer anderen Welt kommen, als würden sie uns sagen wollen, wie viel mehr sie brauchen als Windeln. Das ist nur in deinem Kopf, sagt Nina. Die Kinder kennen das nicht anders. Der schwarzhaarige Junge steht immer noch neben mir. Sein dünner Körper berührt meinen, er hat sich an meine Beine gelehnt, er ist höchstens vier. Ich beobachte seinen Haarschopf, während ich den Windelkampf beobachte. Instinktiv lege ich meine Hand auf seine Schulter. Später erfahre ich, dass er Muhamed heißt.

 

 

“Mitleid ist keine Hilfe, habe ich gelernt.”

 
 

Wir sind in einem der vielen Camps rund um Izmir, aus den Medien bekannt als Zeltstadt. Wir haben eine offizielle Genehmigung, inoffizielle Camps zu versorgen. Das ist doch verrückt, sagt Nina, als wir mit dem Van Richtung Süden fahren. Ich nicke. Hundert Familien warten auf uns. Später werde ich verstehen, dass hundert syrische Familien ein Pendant zu 300 westeuropäischen sind. Auf eine Frau kommen bis zu zehn Kindern, obwohl nicht ein einziges richtig versorgt werden kann. An einer Tankstelle wenige Kilometer vor dem Camp ziehen wir unsere Warnwesten an. Wir treffen auf drei weitere Helfer, die Öfen auf einem Truck geladen haben. „Winter is coming“, höre ich in den letzten Tagen ein bisschen zu häufig. Ali brieft uns. Keine Versprechungen. Wir nicken. Die Öfen werden zuerst verteilt, dann Windeln, Babypuder und Hygieneartikel, Klamotten und Spielsachen zuletzt. Nina und ich sind für die Kinder verantwortlich, während die Erwachsenen die Dinge bekommen, die sie brauchen. Wir haben uns ein Sportprogramm ausgedacht, einen Riesen-Puzzleteppich dabei, Hula-Hoop-Reifen, einen Kindertunnel, Bälle und Bilder zum Ausmalen. In zwei Stunden werden wir keinen Tunnel mehr haben und kaum noch Stifte. Ich verstehe erst jetzt, was Spielsachen für einen Wert haben, wenn man noch nie welche gesehen hat. 

 

 

“Ich verstehe erst jetzt, was Spielsachen für einen Wert haben, wenn man noch nie welche gesehen hat.”

 
 

 

„Du musst die Kinder motivieren mitzukommen“, ruft Nina mir zu. Ich kann nicht. Ich bin überfordert mit der Situation und habe Berührungsängste, weil ich in eine Welt geworfen wurde, die das Superlativ von furchtbar ist und jede Vorstellungskraft so stark überschreitet, dass ich nicht weiß, wie ich mich darin zu bewegen habe. Ich bin gefangen in meiner Unbeholfenheit. Wir sind mit dem Auto ins Landesinnere gefahren, vorbei an Bauruinen, Geröll und Schutt, bis wir im Camp von Straßenhunden begrüßt worden sind. Unser Van parkt am Rand und ist schnell umzingelt von Menschen. Der demographische Wandel scheint sich hier andersherum zu vollziehen. Alte Menschen sehe ich keine. Ich schaue mich um und versuche die Situation räumlich zu fassen. Zwischen Sträuchern, auf staubig-steinigem Untergrund ragen weiße Planen, befestigt auf Ästen, in die Höhe. Stehen kann man darunter nicht. Ich will nicht unhöflich sein, ich hasse Schaulustigkeit. Man spaziert zu Hause ja auch nicht einfach in andere Wohnhäuser. Obwohl Privatsphäre hier ein Fremdwort ist, möchte ich respektvoll mit dem privaten Nichts der Menschen umgehen. 

 

 

Die wenigen Planenunterkünfte, die mir einen Blick ins Innere ermöglichen, personifizieren Spärlichkeit neu. Auf dem Boden liegen bunte Teppiche, Kochtöpfe stehen im Raum, Decken liegen auf dem Boden, Möbel gibt es nicht, woher sollen diese Möbel auch kommen? Die Planen flattern im Wind. Noch ist das kein Problem, noch ist es warm. Wenn es regnet und kalt wird, sieht das anders aus. Wo gehen die Menschen auf Toilette, frage ich Nina, als wir über das nahgelegene Feld laufen. Sie zeigt auf den Boden und ich trete beinahe in einen Menschenhaufen. 

Ich werde von den Frauen fast umgerannt, die ihre Windelausbeute ins Zelt tragen. Ein kleines Mädchen streichelt über meine Armbänder, dann reißt es daran, mein Lieblingsarmband geht kaputt. „Come“, sage ich, will sie an die Hand nehmen, mein Sportprogramm wartet, sie ist hinter dem langen Rock ihrer Mutter verschwunden. Oder ist es die Schwester? Mädchen werden Frauen, bevor sie Mädchen sein konnten. Kinder sind Mütter, alles ist so verschoben hier. Mitleid ist keine Hilfe, höre ich Ali sagen und hole den bunten Puzzleteppich aus dem Van.

 

 

“Mädchen werden Frauen, bevor sie Mädchen sein konnten. Kinder sind Mütter, alles ist so verschoben hier.”

 
 
 

Ich kämpfe mich zu Nina durch, vorbei an hunderten Kinderhänden, die nach mir und dem Teppich greifen. Nina macht Hampelmänner und Sit-Ups, die Kinder, die schon stehen können, stehen im Kreis um sie herum, die meisten starren uns an, als wären wir von einem anderen Planeten, wir sind von einem anderen Planeten, einige machen trotzdem mit. Ich breite den Teppich aus, möchte mit den Kindern puzzeln, es ist unmöglich, weil sich alle auf die Teile stürzen. „Stopp“, kreische ich, weil ich Angst habe, die Kinder würden sich gegenseitig zerquetschen. Niemand hört mich. Ich spüre Kinderhände in meinen Haaren, an meiner Weste, an meinen Armbändern. „Stopp“, rufe ich wieder, Lucy schreit auf Türkisch, langsam löst sich das Kinderknäuel. Ich denke an meine Zeit als Übungsleiterin im Turnverein, an das Desinteresse der Kinder an Sportgeräten, weil sie alles bereits besitzen: Trampoline im Garten, und Stelzen und Diabolos und alles, was ToysRus zu bieten hat. Materialismus wird durch seinen Kontrast neu definiert. Und ich kann meine Wut kaum unterdrücken. Wie kann es sein, dass unsere Kinder sich im materialistischen Kinderspielzeughimmel suhlen und taub sind, vor lauter Zeug, und das Spielzeug dieser Kinder leere Windelverpackungen ihrer eigenen Kinder sind? 

 

 

 

 

Ich bin so wütend, während ich den Tunnel aus dem Van hole. Ich will es noch einmal versuchen. Ich möchte den Kindern die Möglichkeit geben, zu erleben, durch einen Tunnel zu kriechen, bin ich als Kind durch ganze Tunnelstädte gekrochen, in dem Garten meiner Eltern. Es klappt nicht. Der Tunnel bricht im selben Moment, als er den Boden berührt. Die Kinder können sich nicht hintereinander stellen, die Stärksten kriechen ein paar Mal durch den Tunnel, bis er vollkommen kaputt ist, die Kleinen und Schüchternen sitzen im Dreck und weinen. Nina holt Papier und Stifte. Wir haben Bilder von Tieren ausgedruckt und Stifte mitgebracht, die wir verteilen. Ich atme tief durch und fange bei den Kleinsten an. Alle wollen Papier. Alle malen, halten mir ihre Bilder vors Gesicht, die Älteren schreiben ihre Namen auf die Rückseite, wollen, dass ich Herzen darauf male. Wir malen eine Ewigkeit, so kommt es mir vor. Die Kinder sind sehr gründlich, mit ihrem einen Stift, der kaum malt, oder so stumpf ist, dass die schwarzen Fingernägel als Farbe genutzt werden. Das Mädchen neben mir heißt Yara. Sie zeigt auf das lila Pferd, at, sagt sie, und grinst. Harika, sage ich und streiche ihr über den Rücken. Ihr T-Shirt ist verdreckt, so wie alle Kinder fleckige, dreckige Sachen tragen. Die Mütter und Väter stehen im Kreis um uns herum. Nereden geliyorsun, sagt ein Mann, der im Zelt hinter mir sitzt. Wo kommst du her? Almanya. Ein junger Kerl kommt zu mir, Selfie? Ich nicke, bevor ich denken kann. Bevor ich denken kann sehe ich mich auf dem Bildschirm seines Smartphones, klick, klick, klick. Almanya, da habt ihr genug Essen und Trinken, oder? Da habt ihr Klamotten und Medizin und Häuser mit Dächern, da habt ihr eine Zukunft. Oder. ODER? Ich sehe das in den Augen des Mannes, der auf zwei Männer zeigt, vermutlich seine Söhne, der Namen sagt und mir zunickt. Ich schüttele den Kopf und schaue betreten auf das lila Pferd von Yara. Ich möchte euch alle mitnehmen, aber ich kann nicht. Keine Versprechungen, höre ich Ali sagen. Dann müssen wir die Stifte einsammeln und gehen. Ich spüre einen Kinderkörper an meinem Bein. Ein kleiner Junge drückt mir ein Bild in die Hand. Muhamed, sagt er. Ich male ein Herz auf die Rückseite seines Blattes und tausche es gegen den Stift, den er mir nur widerwillig zurückgibt. Ich will mich entschuldigen, bei all diesen Menschen möchte ich mich entschuldigen. 

 

 

“Ich möchte mich entschuldigen, bei all diesen Menschen möchte ich mich entschuldigen. Dass ich eine Zukunft habe. Und sie nicht.”

 
 
 

Es geht nicht um den Stift, den Muhamed nicht behalten darf. Ich bin deutsch, und ihr seid es nicht. Und ich kann nichts dafür, und ihr auch nicht. Dafür möchte ich mich entschuldigen, als ich mich von Muhamed verabschiede. Dass ich eine Zukunft habe. Und sie nicht.

 

 

 

 

 

Über die Autorin:

Christina Lopinski war von Oktober bis Dezember 2019 als Volunteer im IMECE Dorf in Cesme/Türkei für STELP im Einsatz. Die 24-jährige hat lange in Berlin gelebt und während dieser Zeit für das Berliner Abendblatt, die B.Z. und den Wiesbadener Kurier geschrieben. Aktuell ist sie bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig.

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