Zelte für Chios — die Geschichte eines jungen Afghanen

Teil 5 von 8 aus der serie von christina lopinski

 
 

„Das wird nicht besser“, sagt Kosta und knetet seine Hände. Wir sitzen im Wohnzimmer eines majestätischen Hauses, Serkan, Hasib, Kosta und ich, selbst gebaut, sein Lebenswerk. Ein reicher Mann, würde man meinen, wenn man die stilvolle Einrichtung und die Kunstwerke an der Wand betrachtet. Kosta ist nicht reich. Sein Restaurant läuft nicht gut, keine Touristen, kein Einkommen. Seit Jahren bekocht er nicht mehr europäische Urlauberinnen, sondern geflüchtete Menschen. Kosta ist ein reicher Mann, obwohl er noch nie weniger besessen hat.

Was machst du in Chios, Kind? Und wer sind die Männer, von denen du schreibst? Auf die Fähre nach Athen warten, Mama, um einen Sachspendentransport aus Stuttgart entgegenzunehmen. Und die Männer sind mittlerweile meine Freunde. Serkan ist der Gründer von Stelp e. V., dem Verein, der das Dorf, in dem ich aktuell arbeite, mit aufgebaut hat. Er ist für ein paar Tage in die Türkei gekommen, jetzt sitzen wir zusammen auf der griechischen Insel und versuchen uns, in den wenigen Stunden, die wir hier haben, ein Bild von der aktuellen Situation zu machen. Ich habe auf Chios kein Geflüchtetenlager besucht und kann mich nur auf die Erzählungen von Hasib und Kosta berufen. Mir treten immer noch Tränen in die Augen und das Gefühl unfassbarer Ohnmacht und Hilflosigkeit durchströmt meinen Körper, wenn ich an Hasibs Worte denke. Ich möchte dieses Gespräch teilen, weil mich selten etwas so sehr berührt hat. Ich möchte Hasib vorstellen, weil ich spüre, dass ich das muss.

 

 

 

 

Hasib und Kosta holen uns am Hafen ab. Es regnet, und es ist dunkel und kalt. Die beiden wirken so vertraut, sie könnten Vater und Sohn sein, würden die kulturellen Unterschiede optisch nicht auffallen. Wir umarmen uns herzlich, obwohl wir uns nicht kennen, ich fühle mich sofort geborgen und willkommen. „Gerade ist ein Boot angekommen“, sagt Hasib sofort und zeigt auf eine Schneise in der Hafeneinfahrt. Er spricht ruhig. 50 Menschen, ein Schlauchboot, ein Nebensatz. Zum Glück sind sie angekommen, sagt er und schaut auf den Boden. Später werde ich erfahren, dass sein Boot vor zwei Jahren fast gesunken wäre. Ein paar Minuten später finden wir uns auf Kostas Couch wieder, sein Golden Retriever schläft auf den Fliesen. Kosta erzählt kurz von seiner Frau und dass er seinen Sohn zur Nachhilfe fahren muss. Er fragt Serkan, wie das Leben so läuft, belanglose Gespräche scheinen hier nicht geführt zu werden, Alltag auf Chios bedeutet Flucht, das Thema kommt schneller auf, als ich Small-Talk Fragen stellen kann. 

Ich sage sehr wenig, an diesem Abend. Ich fühle mich wohler in der Beobachterposition, all die Informationen überschwemmen mich, ich schaue Hasib an, während er redet, sein Tattoo auf der Brust hebt und senkt sich. Hasib ist 21 Jahre alt und kommt aus Afghanistan, unweit von Kabul. Das erste Mal ist er geflohen, da war er 14. Im Iran sei er festgehalten wurden. Er schaut auf seinen rechten Arm, ich sehe ein verblasstes Tattoo. Er sieht, dass ich es sehe. „Selfmade“, sagt er und seine braunen Augen öffnen mir eine ferne Welt, die sich gerade sehr nah anfühlt. Der verschnörkelte Buchstabe S stehe für seine Familie, der Vorname seines Vaters und der seiner Mutter beginnen mit S. Begannen, Hasibs Mutter ist vor wenigen Jahren in Afghanistan gestorben. Er hatte ein gutes Leben. Hasib lacht, als er von Norwegen erzählt. Er hat die Sprache gelernt und durfte zur Schule gehen. Norwegen ist ein gutes Land, sagt er. „But very cold.“ Wir lachen beide. 

 

 

“Seine braunen Augen öffnen mir eine ferne Welt, die sich gerade sehr nah anfühlt.”

 

Ich sage, dass ich noch nie in Norwegen war und stelle mir vor, wie er von Afghanistan bis nach Skandinavien gelaufen ist, während ich morgen in ein Flugzeug steigen kann, wenn ich das möchte. Damals war Hasib 18. Und dann ist er freiwillig zurück nach Afghanistan gegangen, illegal, denn Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland, registrierte Geflüchtete dürfen nicht in ihre Heimat zurückkehren. Auch nicht, wenn Familienmitglieder im Sterben liegen. „And then I tried it again“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich beiße mir auf die Lippen, als sich ein ‚wow‘ seinen Weg ins Wohnzimmer bahnt. Mein Sprachzentrum scheint abgeschaltet. Ich schlucke, wir schauen uns lange an, ich hoffe, dass meine Augen ihm vermitteln, dass mir das alles unglaublich, unglaublich Leid tut. 

Beim zweiten Mal sei er erfahrener gewesen. Bis in die Türkei war es kein Problem, die Überfahrt nach Griechenland allerdings sei gefährlich. Hasib erzählt von Fake-Schwimmwesten, die an Kinder verteilt wurden und von Schlauchbooten, die schon mit Loch losgefahren sind. So viele Menschen sind gestorben, sagt er. Ich frage mich in diesem Moment, wo seine Familie ist. Und wie ein Kind das alles aushalten kann. „I bought a boat“, sagt er und lacht mich an. „I’m a captain.“ Jetzt muss ich auch lachen, wir lachen laut und lange und herzlich. Er vergräbt die Hände in seinem roten Pullover, den er in Norwegen gekauft hat, legt seinen Kopf schief, ich spüre, dass wir uns mögen. 

 

 

“Ich frage mich wie ein Kind das alles aushalten kann.”

 

Er holt sein Handy raus, auf der Karte sehe ich den Hafen von Cesme und die Insel Chios. Er zeigt mit dem Finger auf einen kleinen grünen Punkt, in der Mitte der beiden Stationen. Das war meine Rettung, sagt er. Dann erzählt Hasib von der Nacht, in der er losgefahren ist. Sechs Syrer habe er mitgenommen. Erst haben sie ihm nicht vertraut, dachten, er sei ein Schlepper. Leid wiegt stärker als Misstrauen, in einer windstillen, regnerischen Nacht sind sie losgefahren. Viel Geld für ein Boot habe er nicht gehabt. „Bad quality“, sagt er. Ich nicke und verfolge seinen Zeigefinger, der sanft über das Handydisplay fährt. Griechenland und die Türkei trennen an jener Meerenge nur wenige Kilometer. Die scheinbare Nähe hat schon einige Menschen um ihr Leben betrogen. Ein Profischwimmer der syrischen Nationalmannschaft hat es mit Körperkraft geschafft, unmöglich, eigentlich, sagt Serkan. Hasib hat einen sehr sportlichen Körper, schwimmen, niemals, sagt er und imitiert ein Zittern. Er trinkt einen Schluck Cola Zero, dann fährt er fort. Nach wenigen Minuten habe sich das Boot mit Wasser gefüllt. Ich dachte wir würden sinken, sagt er. Wir hatten große Angst. Als Kapitän, als 18-jähriger Kapitän, habe er entschieden, alles über Bord zu werfen, was nicht zwingend gebraucht wird. Die Männer trennen sich also in dieser Nacht von den wenigen Habseligkeiten, die sie über die letzten Wochen gerettet haben. Jetzt haben sie nur noch sich selbst und das, was sie am Körper tragen. Hasib hat Flickzeug dabei, kann das Boot aber nicht auf dem Meer reparieren. Er tippt auf die Insel. Das war unsere Rettung, sagt er nochmal. Und dann erzählt er von den 48 Stunden, die sie auf jener Insel verbracht haben, die nichts ist, außer ein braches Stück Land. Der zweite Tag ohne Wasser und Nahrung sei weniger schlimm gewesen, sagt er. Ich schlucke wieder.

 

 

“Die scheinbare Nähe zu Griechenland hat schon viele Menschen um ihr Leben betrogen.”

 

Wir haben noch nicht zu Abend gegessen, ich versuche meinen knurrenden Magen auszuschalten. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass manche Menschen immer Hunger haben müssen, so lange manchmal, bis sie nie wieder Hunger haben. 

Im Hafen von Chios wurde er von der griechischen Polizei aufgegriffen und mitgenommen. Die dachten ich wäre ein Schlepper, sagt er. Weil ich zum zweiten Mal da war. Seine tote Mutter, der Grund seiner zweiten Einreise, interessierte niemanden. Ich nicke. Das tut mir Leid, sage ich, er nickt. Er hatte die Chance, sich länger mit einer Polizistin zu unterhalten. Sie hat gesehen, dass ich kein schlechter Mensch bin, sagt Hasib und die retrospektive Dankbarkeit verteilt sich im Raum. Jeder der dich anschaut sieht, was für ein reines Herz du hast, will ich sagen, aber ich kann nicht. „And now I’m here“, sagt er irgendwann und krempelt die Ärmel seines Pullovers hoch. Serkan fragt, wie es seiner Freundin geht. Die sei zurück in Amerika. Und nicht mehr seine Freundin. Hasib hat eine Wohnung in Chios und muss keine Angst mehr um sein Leben haben. Er spielt Himmel und Hölle mit den Lebensrealitäten seiner Vergangenheit und seiner Zukunft. Zwischen Afghanistan und Norwegen liegen nur wenige Jahre. Oder ein ganzes Leben, denke ich. Eine Fähre nähert sich dem Hafen. Unsere Fähre. Wir verlassen Chios, wir können Chios verlassen, einfach so, „in Athen ist es genauso schlimm“, sagt Serkan und ich spüre, dass sich mein Blick verändert hat, in den letzten Wochen. Dass ich nicht mehr wegschauen kann, selbst wenn ich möchte, weil die Auswirkungen von Flucht überall Realität sind. Meine Flucht-Realität hat jetzt viele Gesichter. Ich denke an Rashid und Sheia und wie Yasmin mir eine Blume schenkt und sagt, dass sie mich lieb hat. Ich denke an all die Kinder in den Camps, an die Frauen, Hasib steht vor mir. Meine Fluchtrealität wird zu einem Bilderbuch aus Einzelschicksalen. Und aus Gefühlen. Das tut weh. Ich träume nachts davon, ich gehe weniger leichtfüßig durchs Leben, an manchen Tagen spüre ich den Schmerz der Hilflosigkeit stärker als an anderen. Ich möchte dann lieber Romane lesen, das Bilderbuch in die Ecke werfen. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir alle dieses Bilderbuch anschauen. Denn es bleibt. Auch wenn wir es aus unserem Bücherregal entfernen.

 

 

“Meine Fluchtrealität wird zu einem Bilderbuch aus Einzelschicksalen.”

 

Serkan und ich sitzen in Athen. Wir essen Brot und Humus, unterhalten uns, dann klingelt Serkans Handy. „Hey, Brother“, sagt er und durch den Lautsprecher höre ich Hasibs Stimme. Er arbeitet seit Monaten ehrenamtlich in dem Geflüchtetenlager auf Chios. Serkan vergräbt sein Gesicht in den Händen, seufzt, nickt, kneift die Augen zusammen. Zwei neue Boote, strömender Regen. Kinder schlafen im Schlamm, „wir brauchen Zelte, Serkan“, sagt Hasib. Dann schickt er Fotos, die unmenschliche Verhältnisse zeigen. Ich will mir nicht ausmalen, wie es den Menschen geht, die ihre körperlichen und emotionalen Grenzen schon überschritten haben, wenn sie in Europa ankommen. Der Kellner stellt uns Uzo und ein Stück Kuchen auf den Tisch. Mir wird schlecht bei dem Anblick, auf Serkans Display werden die Fotos überschwemmter Planen und durchnässter Menschen dunkler. „So ist das immer. Du gehst mit Freunden essen, und dann erreicht dich so eine Nachricht.“ Er atmet tief ein. „Scheiße“, sagt er und haut mit der Faust auf den Tisch. Und dann überlegen wir, wo wir 20 Winterzelte herbekommen können. Mein Handy blinkt. Hasib schreibt, ob ich heute zurück nach Chios kommen kann. Wir brauchen Hilfe. Es tut mir so Leid, Hasib. So viele Warnlichter, so viel Not. Und dann gibt es die Menschen, die Feuer mit Benzin löschen. Wo ist all die Menschlichkeit vergraben, frage ich mich, an diesem Nachmittag in Athen. 

Über die Autorin:

Christina Lopinski war von Oktober bis Dezember 2019 als Volunteer im IMECE Dorf in Cesme/Türkei für STELP im Einsatz. Die 24-jährige hat lange in Berlin gelebt und während dieser Zeit für das Berliner Abendblatt, die B.Z. und den Wiesbadener Kurier geschrieben. Aktuell ist sie bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig.

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